Magersucht
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Magersucht (Anorexie nervosa)
Die Magersucht (Anorexie nervosa) ist eine krankhafte
Essstörung, bei der ein starker Wille zum Gewichtsverlust und gleichzeitig eine
große Angst vor einer Gewichtszunahme auftreten. Magersucht beginnt meistens
bei pubertierenden Mädchen, selten können auch Jungen oder erwachsene Frauen
betroffen sein. Zugrunde liegen nach heutiger Sicht familiäre Konflikte. Dass
diese Konflikte als Ventil eine Magersucht verursachen (und nicht
Kopfschmerzen, Esssucht oder Drogenabhängigkeit), scheint auf eine Erbanlage
zurückzugehen.
Neben der psychotherapeutischen Behandlung muss das
Untergewicht mit seinen Folgen für alle Organe bekämpft werden. Da dies nicht
immer rechtzeitig gelingt, verläuft die Magersucht in 10–15 Prozent der Fälle
tödlich.
Definition
Wörtlich übersetzt bedeutet Anorexie
"Appetitverlust oder -verminderung" – eine irreführende Bezeichnung,
da nicht der Appetit, sondern in erster Linie das Essverhalten gestört ist. Der
Zusatz "nervosa" weist auf die psychischen Ursachen dieser Essstörung
hin. Im Vordergrund der Magersucht steht der starke Wille, das Körpergewicht
dauerhaft stark abzusenken. Am häufigsten beginnt die Erkrankung etwa mit 14
Jahren bei Mädchen, Jungen sind selten betroffen. Die Magersucht ist mit der
Ess-Brech-Sucht (Bulimie)
verwandt.
Mit Ausnahme der Depression wird kaum eine andere psychische Störung so häufig in der Presse
erwähnt wie die Magersucht. Immer wieder wird die Magersucht von Models oder
Schauspielerinnen bekannt. In der Modebranche führte das jüngst zum Ausschluss
von Models, die ein bestimmtes Mindestgewicht nicht erreichten. Das
Krankheitsbild der Anorexia nervosa wurde erstmals 1873 beschrieben. Aber erst
seit den 1970er Jahren wird die Diagnose häufiger gestellt – ob dies an einer
vermehrten Häufigkeit oder an der größeren Aufmerksamkeit für das Thema liegt,
ist unklar.
Häufigkeit
Etwa 0,4–1,5 Prozent der Frauen im Alter von 14 bis 35
Jahren leidet an Magersucht (Anorexie). Frauen sind 10-mal häufiger betroffen
als Männer. An Anorexie erkranken die meisten Mädchen etwa zu Beginn der
Pubertät. In Risikogruppen wie etwa bei Balletttänzerinnen ist die Krankheit
jedoch viel häufiger vertreten.
Auch wenn Frauen weitaus häufiger betroffen sind, kommt
die Erkrankung zunehmend auch bei Männern vor.
Ursachen
Die Ursachen der Magersucht (Anorexie) sind weitgehend
unbekannt. Es scheint sich um eine Kombination aus psychischen und
gesellschaftlichen Einflüssen zu handeln, die jedoch zusätzlich einer genetisch
bedingten Bereitschaft (Disposition) bedürfen, um zu diesem Krankheitsbild zu
führen.
Bei der Entstehung der Anorexie wirken verschiedene
Faktoren zusammen, die sich gegenseitig beeinflussen.
Psychologische
Einflüsse
Da die Magersucht besonders häufig während der
schwierigen Entwicklungsphase der Pubertät beginnt, glaubt man, dass sie der
Ausdruck einer Überforderung durch die alterstypischen Anforderungen ist.
Während der Pubertät entwickelt sich das Mädchen zur Frau und muss eine
entsprechende neue Identität finden. Fühlt sich die Betroffene davon
überfordert, entsteht ein tiefes Gefühl der Unsicherheit.
Der erste Schritt zur Anorexie ist oft eine Fastenkur
von mehr oder weniger normalgewichtigen Mädchen. Für viele junge Frauen scheint
der Sieg über den Körper und den Hunger sehr befriedigend zu sein. Dieses
Gefühl wird dann, ähnlich einer Drogenabhängigkeit, immer wieder gesucht und es
entwickelt sich ein Suchtverhalten.
In den Familien anorektischer Patientinnen konnten
häufig bestimmte Verhaltensmuster festgestellt werden. Die Mädchen werden oft
von ihren Eltern besonders stark behütet, was bedeutet, dass auch in der
Familie nicht angemessen auf die Entwicklung des Kinds zur Frau reagiert wird.
Ebenso scheinen Konflikte in der Familie in vielen Fällen nicht angesprochen zu
werden.
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Faktoren, die
mitverantwortlich für die Magersucht gemacht werden. So sind auch ein sexueller
Missbrauch, ein geringes Selbstwertgefühl und eine zwanghafte
Persönlichkeitsstruktur als Ursachen für Anorexie im Gespräch.
Gesellschaftliche
Einflüsse
In westlichen Gesellschaften hat sich das
Schönheitsideal seit Anfang der 1960er Jahre immer weiter in Richtung eines
sehr schlanken Körpers entwickelt. Auf der anderen Seite kam es durch relativen
Wohlstand und ein Nahrungsüberangebot gleichzeitig zu einem Anstieg des
Durchschnittsgewichts.
Übergewicht wird insbesondere bei Frauen gesellschaftlich negativ bewertet.
Übergewichtige Männer werden häufig als stattlich bezeichnen, Frauen hingegen
als fett. Durch Werbung und Filme entsteht der Eindruck, dass nur schlanke
Frauen erfolgreich und beliebt sind. Dicke Frauen sind entweder "graue
Mäuse" oder "Ulknudeln". Gerade junge Frauen, die während der
Pubertät körperliche Veränderungen durchlaufen und erst ein Gefühl für ihren
neuen Körper entwickeln müssen, können durch dieses Schlankheitsideal stark
verunsichert werden.
Biologische
Einflüsse
Man vermutet, dass bei vielen magersüchtigen Frauen die
Hirnregion gestört ist, in der das Essverhalten sowie die sexuelle Aktivität
und auch der Menstruationszyklus gesteuert werden. Es ist allerdings auch möglich, dass
die Funktionsstörung dieser Hirnregion erst im Laufe der Erkrankung, z.B. als
Folge des Gewichtsverlusts, auftritt und zur Aufrechterhaltung der Störung
beiträgt, aber nicht ihre eigentliche Ursache ist.
Symptome
Die Magersucht (Anorexie) äußert sich durch vielfältige
Symptome. Einerseits verlieren die jungen Frauen deutlich an Gewicht. Außerdem
kommt es aufgrund der Mangelernährung zu körperlichen Beschwerden, die
lebensbedrohliche Ausmaße annehmen können.
Körperschemastörung
Bei Personen mit einer Magersucht wird die Wahrnehmung
ihres eigenen Körpers gestört. Auch wenn sie im Laufe der Magersucht schon viel
Gewicht verloren haben, überschätzen sie ihren Körperumfang und halten sich für
zu dick.
Verändertes Essverhalten
Infolge der verzerrten Wahrnehmung des eigenen Körpers
bemühen sich die Betroffenen, ihr vermeintlich zu hohes Gewicht zu reduzieren.
Zu diesem Zweck nehmen sie nur geringe Mengen an Nahrung zu sich und vermeiden
Lebensmittel, die viele Kalorien enthalten. Einige Magersüchtige verweigern
zeitweise vollständig die Nahrungsaufnahme.
Häufig nimmt das Essen einen zentralen Stellenwert im
Leben der Betroffenen ein. Sie verwenden viel Energie darauf, Hungergefühle zu
unterdrücken oder bereiten mit großem Eifer wahre Festmahle für andere zu, an
denen sie aber selbst nicht teilnehmen.
Im Hinblick auf die Veränderungen des Essverhaltens
lassen sich bei der Magersucht zwei Personengruppen unterscheiden: Etwa 50
Prozent halten ausschließlich Diät, bei den anderen kommen bulimische Symptome
hinzu (Essanfälle und selbst herbeigeführtes Erbrechen). Bei Betroffenen, die
zur letzten Gruppe gehören, beginnt die Störung meist später. Sie haben vor der
Erkrankung ein höheres Gewicht, die Körperschemastörung ist meist stärker
ausgeprägt und sie sind häufiger depressiv als Betroffene mit einer rein
anorektischen Symptomatik.
Gewichtsverlust
Neben der strengen Diät setzen viele Magersüchtige
zusätzlich Appetitzügler, Abführmittel und sportliche Betätigung ein, um
abzunehmen. Durchschnittlich verlieren sie 45–50 Prozent ihres Ausgangsgewichts.
Liegt das Körpergewicht um mindestens 15 Prozent niedriger als das
Normalgewicht (Body-Maß-Index unter 17,5), wird die Diagnose der Magersucht
(Anorexie) gestellt. Viele Betroffene magern auf 30–40 kg ab.
Körperliche
Veränderungen
Durch den Gewichtsverlust und die Mangelernährung kann
es bei der Magersucht zu schwerwiegenden Schädigungen des Körpers kommen. Die
Gewichtsabnahme wird vom Körper als Notsituation eingestuft. So unterlässt er
alles, was einen zusätzlichen, unnötigen Energieverlust bedeutet. Da der Körper
auch die Bedingungen für eine Schwangerschaft nicht mehr erfüllen kann, stellt
er alle Aktivitäten in dieser Richtung ein. Es kommt zu hormonellen
Veränderungen, die auch zu einem Ausbleiben der Menstruation führen. Bei Beginn der Magersucht vor der Pubertät wird die körperliche
Entwicklung meist stark verzögert.
Auch Verlangsamung des Herzschlags, niedriger
Blutdruck, Absinken der Körpertemperatur, Hautprobleme, flaumartige Behaarung
des Rückens, Muskelschwäche, Haarausfall und Wassereinlagerung im Gewebe können
als Folgen der Anorexie auftreten. Letzteres liegt daran, dass sich der Gehalt
von Eiweißen, welche gewöhnlich Wasser binden, im Blut verringert. Fehlen sie,
kann das Wasser wieder aus den Blutgefäßen ins Gewebe strömen. Auch der Mineralstoffhaushalt ist in der Regel gestört. All diese körperlichen
Befunde werden durch die Mangelernährung verursacht und verschwinden meist
vollständig, wenn sich das Essverhalten langfristig normalisiert hat.
Psychische
Veränderungen
Personen mit Magersucht streben beharrlich danach,
dünner zu werden, im Vordergrund. Verbunden damit besteht eine extreme Angst
vor einer Gewichtszunahme. Schon eine Zunahme von wenigen Gramm, die aufgrund
des gesenkten Energieverbrauchs schon nach recht geringer Nahrungsaufnahme
folgen kann, löst Angst und Panik aus. Das führt zu dem Versuch, das
Essverhalten noch strenger zu kontrollieren. Die Erkrankten geraten in einen
Teufelskreis. Häufig zeigen sich bei den Betroffenen auch depressive Symptome
und eine starke Reizbarkeit.
Diagnose
Ein gut messbares Kriterium für die Diagnose Magersucht
ist das Körpergewicht, das die Betroffenen um mindestens 15 Prozent gegenüber
ihrer Altersgruppe unterschreiten. Hinzu kommt die Beurteilung eines Arztes,
der im Gespräch und mithilfe von Fragebögen feststellt, dass z.B. das Thema
Essen und Körpergewicht eine übermäßige Bedeutung besitzt und dass viel
unternommen werden, um das Gewicht zu verringern, wie z.B. Abführmittel
einnehmen, übertriebene Aktivität oder selbst herbeigeführtes Erbrechen.
Bei Erwachsenen ist ein Body-Maß-Index unter 17,5 ein
Anhaltspunkt für eine Magersucht.
Therapie
Die Therapie der Magersucht (Anorexie) ist in zwei
Abschnitte unterteilt. Vordringlichstes Anliegen ist eine Gewichtszunahme, um
den körperlichen Folgeschäden entgegenzuwirken. Insbesondere wenn das
Körpergewicht unter 75 Prozent des Normalgewichts liegt, die körperliche
Verfassung lebensbedrohlich ist oder aufgrund der Depression Selbstmordgefahr besteht, sollte die Behandlung zunächst im Krankenhaus
stattfinden.
Da bei an Magersucht Erkrankten meist wenig Einsicht
für die Schwere ihrer Erkrankung besteht, müssen bei Lebensgefahr oft zunächst
Nährstoffe über Infusionen zugeführt werden. Die Betroffenen sollten jedoch
möglichst bald die Verantwortung für ihre Gewichtszunahme selbst übernehmen.
Langfristig kann das Gewicht nur normalisiert werden,
wenn die Ursachen der Magersucht behandelt werden. Aufgrund der vielfältigen
Faktoren, die an der Entstehung der Anorexie beteiligt sind, umfasst die
Behandlung verschiedene Komponenten. So müssen die Betroffenen lernen, eine
realistische Vorstellung ihres Gewichts zu bekommen und ein normales
Selbstwertgefühl aufbauen. Meist muss neu erlernt werden, auf die Signale des
Körpers, wie z.B. Hunger, zu hören und angemessen zu reagieren. Die Therapie
umfasst außerdem Problembewältigung und besonders bei jungen Frauen eine
Familientherapie, damit die Angehörigen angemessen auf die Magersucht eingehen
können.
Verlauf
Die Erfolgsquoten für eine verhaltenstherapeutische
Behandlung der Magersucht und eine kurzfristige Gewichtssteigerung liegen
zwischen 40 und 90 Prozent. Aussagekräftige Daten für langfristige
Therapieerfolge sind derzeit nicht verfügbar. Etwa zehn Prozent der Magersüchtigen
sterben infolge der Anorexie.
Auch nach einer Gewichtsnormalisierung hält bei vielen
Betroffenen die verzerrte Einstellung zu Gewicht und Figur an. Generell sind
die Besserungschancen besser, wenn die Magersucht früh begonnen hat. Bei einem
sehr frühen Beginn vor dem elften Lebensjahr ist die Voraussage dagegen
deutlich schlechter.
Vorbeugen
Es ist nicht immer möglich, einer Magersucht (Anorexie)
vorzubeugen, da die Ursachen oft nur schwer zu benennen und sehr vielschichtig
sind. Regelmäßige, genussvolle Mahlzeiten in einer ruhigen Atmosphäre
verhindern, dass Essen mit Streit oder Kampf verbunden wird. Außerdem sollte
auf Kinder kein Zwang zum Essen oder zu bestimmten Essmengen ausgeübt werden.
Finden sich Anzeichen für ein fehlerhaftes Essverhalten,
sollten das offene Gespräch gesucht werden. Solche Anzeichen können z.B. die
offensichtliche Gewichtsabnahme oder sehr häufiges Wiegen sein, aber auch
versteckte Zeichen wie das Trinken großer Wassermengen, mit denen das
Hungergefühl ausgeschaltet wird, oder übermäßiges Sporttreiben, um noch mehr
Kalorien zu verbrauchen. Auch ein geleerter Kühlschrank, große Ausgaben für
kalorienarme Lebensmittel oder die Einnahme von Appetitzüglern und
Abführmitteln sind Alarmsignale. In einem Gespräch sollte deutlich gemacht
werden, dass das Verhalten nicht normal ist und sehr gefährlich sein kann. Es
sollte außerdem nicht gezögert werden, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Quellen:
Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. 260. Aufl., de
Gruyter, Berlin 2002; Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2003; Strauß, B.,
Hohagen, F., Caspar, F.: Lehrbuch Psychotherapie. Hogrefe, Göttingen 2007; Leichsenring,
F. (Hrsg.): Lehrbuch der Psychotherapie. CIP-Medien, München 2004
Stand: März 2007